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Re: Filme und Bücher

Verfasst: So 6. Okt 2019, 20:46
von onki
Midsommar (2019) von Ari Aster

So, gestern endlich Midsommar im Original (Kino-Version 147 min.) gesichtet.
Bei den Göttern, es sind wahrlich gute Zeiten für Cineasten!
Ari Aster empfiehlt sich nach seinem vielschichtig grandiosen Hereditary auch mit seinem neuestem Werk für die Avantgarde des intellektuellen, etwas abseitigen Films. Zusammen mit Lanthimos oder Guadagnigno zählt für mich auch Aster zur nächsten Generation der Meister-Klasse eines Jodorowsky oder Lars von Trier.

Ebenso wie auch Hereditary würde ich auch Midsommar nicht zum Horror-Genre zählen.
Dennoch sind die (in wenigen Sequenzen) gezeigten Gewaltdarstellungen von einer expliziten Brutalität, dass der Straps pfeift.
Die Besonderheit hier jedoch,

Im Kontext des gesellschaftlichen, rituellen Gemeinschafts-Konzepts der Sekte sind die Handlungen in sich schlüssig und positiv im Sinne eines natürlichen Kreislaufs zu bewerten (inkl. Opferkult und Freitot). Der Eindruck der ungeheuerlichen Brutalität und Härte entsteht ausschließlich aus dem Blickwinkel zeitgenössischer Gesellschaftsformen mit überhöhtem Individualismus-Ideal. Das ICH spielt in dieser Sekten-Gemeinschaft eine stark untergeordnete Rolle. Eine Gesellschaft die sich der Freiheit eines bedingungslosen Loslassens verschrieben hat, ob in Punkto Bewusstsein, Bindungen, Schmerz oder Trauer.

Und gerade die Trauerverarbeitung ist es wieder, die Aster bis ins kleinste Detail seziert und wie eine ungangbare Lava auf der Leinwand ausbreitet... eine Trauer, die zynischerweise fast schon symbolisch für Ich-Bezogenheit interpretiert werden darf. Aster weis das Zusammenspiel von Trauer und Schmerz wie einen unausweichlichen Sumpf zu inszenieren - jede Bewegung inmitten dieses Sumpfs beschleunigt den sicheren Untergang nur mehr.
Eine tiefgehende Trauer und Angst, von der sich wahrhaftig zu lösen, nur die Kraft einer kultischen Gemeinschaft vermag?

Es ist schwierig einen solchen Film zu bereden oder zu analysieren ohne zu viel aus der Handlung zu verraten...
Der Gedanke, dass noch eine 171min. Directors Cut Fassung auf BluRayDisc nachgereicht wird, mit noch weiteren Gewalt- und Psychodelik-Exzessen, lässt einen vor Vorfreude fast wie einen Wolf aufheulen! 8)

Klar ist, nur: Es gelten von-Triersche Gesetze:
Wer nicht offen für ALLES ist und allgemein Schwierigkeiten (oder keine Freude daran) hat kontroverse, künstlerisch abnorme Filme zu interpretieren, der/die sollte klar die Finger von diesem Film lassen. Jede Sicht zum Trotz resultiert in verständnisloses Jammern bis hin zum Supergau (dem "demonstrativen" Verlassen des Kinosaals). Doch auch Horrorfans, die aufgrund der blutrünstigen Splatter-Effekte in den Film marschieren, werden höchst irritiert sein und keine Freude an diesem Werk haben.
Alle anderen erwartet ein surreales, psychodelisches, meisterlich in Bild und Ton inszeniertes Kunstwerk, das vielfach interpretiert und begutachtet werden kann, ohne seinen Reiz zu verlieren.

Meine absolute Empfehlung - for those who know...

9/10

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Mo 7. Okt 2019, 11:41
von DaBeda
Sehe schon, bzw. kristallisiert sich für meinen Eindruck immer mehr heraus, u.a. gerade auch in puncto Filme ticken wir doch schon sehr ähnlich. :)
Kann dir deiner wieder einmal mehr als gelungenen Kritik nur absolut gerne beipflichten!

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Di 8. Okt 2019, 21:39
von onki
DaBeda hat geschrieben: Mo 7. Okt 2019, 11:41 Sehe schon, bzw. kristallisiert sich für meinen Eindruck immer mehr heraus, u.a. gerade auch in puncto Filme ticken wir doch schon sehr ähnlich. :)
Kann dir deiner wieder einmal mehr als gelungenen Kritik nur absolut gerne beipflichten!
:) Danke. Lerne auch gerne von anderen Ansichten, sofern sie mich überzeugen!
Hast Du Midsommar also auch schon wieder gesehen? :wink:
Ich habe ihn lediglich in Englisch mit nicht funktionierenden (fast durchsichtigen Untertitel) sehen können.
Aber Stand jetzt, wüßte ich spontan keine anders geartete Interpretation...

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Di 29. Okt 2019, 10:42
von DaBeda
Weil ma ja grad drüben kurz in unserem Musikthread bei einem Teil der österreichischen Musikszene waren, fällt mir gerade ein (ja, ein großer Teil der humoristischen Szene gerade in unserem Nachbarland wirklich vergleichsweise meist extrem genial, gerade das schwarzhumorige/ins morbide tendierende), dass ich erst kürzlich wieder den 2010-Streifen 'Aufschneider' mit dem sicher nicht nur von mir hoch verehrten Josef Hader in der Hauptrolle sah und diesen Film jedem nur halbwegs an diesem Filmgenre Interessierten hier bei uns im Forum wärmstens und besten Gewissens weiterempfehlen kann :!:

https://de.wikipedia.org/wiki/Aufschneider

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Fr 1. Nov 2019, 11:29
von onki
DaBeda hat geschrieben: Di 29. Okt 2019, 10:42 ...dass ich erst kürzlich wieder den 2010-Streifen 'Aufschneider' mit dem sicher nicht nur von mir hoch verehrten Josef Hader in der Hauptrolle sah und diesen Film jedem nur halbwegs an diesem Filmgenre Interessierten hier bei uns im Forum wärmstens und besten Gewissens weiterempfehlen kann :!:

https://de.wikipedia.org/wiki/Aufschneider
ja, der gute Hader!
Hab es immer noch nicht geschafft ihn live zu sehen... :roll:
Von seinen vielen starken Filmen stechen für mich vor allem "Indien" und "Wilde Maus" heraus.
Gerade letzterer: Der geht immer wieder mal zwischendurch 8)

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Sa 2. Nov 2019, 18:28
von Hille
onki hat geschrieben: Fr 1. Nov 2019, 11:29
DaBeda hat geschrieben: Di 29. Okt 2019, 10:42 ...dass ich erst kürzlich wieder den 2010-Streifen 'Aufschneider' mit dem sicher nicht nur von mir hoch verehrten Josef Hader in der Hauptrolle sah und diesen Film jedem nur halbwegs an diesem Filmgenre Interessierten hier bei uns im Forum wärmstens und besten Gewissens weiterempfehlen kann :!:

https://de.wikipedia.org/wiki/Aufschneider
ja, der gute Hader!
Hab es immer noch nicht geschafft ihn live zu sehen... :roll:
Von seinen vielen starken Filmen stechen für mich vor allem "Indien" und "Wilde Maus" heraus.
Gerade letzterer: Der geht immer wieder mal zwischendurch 8)
Auftritte von ihm hab ich schon ein paar gesehen. Das geht auch immer.

Ihn selber hab ich mal in der Bim getroffen, das war irgendwie schräg:)

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Fr 6. Dez 2019, 18:16
von onki
Wieder mal ein Tipp für den etwas abseitigen Geschmack!
Der Leuchtturm (2019)
Regie: Robert Eggers
Darsteller: Willem Dafoe, Robert Pattinson, Valeriia Karaman

In diesem intensiven Psycho-Horror-Drama geht es um die Geschichte zweier ungleicher Leuchtturmwärter um 1890, die auf einer einsamen, klimatisch rauhen Insel der Ostküste Kanadas dem Wahnsinn verfallen und sich bis zur maximalen Eskalation aufreiben.

Das Publikum verfolgt den Konflikt von Beginn an aus voyeuristischen Blickwinkeln ungewöhnlich nah, gnadenlos real und intensiv bis hin zur finalen Eruption.
Das quadratische(!) Bildformat in Schwarz/Weiss und die die unglaubliche Sounduntermalung in Mono verstärken diesen immer brachialer treibenden Sog aus Mythologie, Misstrauen, Alkohol, Wahnvorstellung, Surrealismus und Gewalt in mitten einer unwirtlichen, rauhen Umgebung, die ein Bela Tarr nicht ungemütlicher hätte darstellen können. Und an Tarrs Werke erinnert dieses Szenario in vielen Sequenzen. Quasi "The Turin Horse" auf einem gewalttätigen Ecstasy-Trip!

Eine Warnung ist durchaus angebracht:
Leute die mit Interpretationen von (sehr schrägen) Vorgängen und Bildern nicht klar kommen und vor allem zartbesaitete Menschen... sollten diesen Film meiden! Die übrig gebliebenen werden einen Heidenspass haben an diesem Treiben und Zeugen eines der intensivsten Dramen aller Zeiten werden. Die beiden Darsteller Willem Dafoe und (vor allem) Robert Pattinson spielen sich im wahrsten Sinne des Wortes die Seele aus dem Leib.
Wenn Pattinson hier für die Rolle des jungen Leuchtturmwärters keinen Oskar bekommt, dann werde ich drei Tage Lachen und Weinen zugleich!

Eggers hat mit "The Witch" bereits gezeigt, dass er keinen Mainstream für ein denkfaules Publikum abliefern will.
Mit "The Lighthouse" ist ihm nicht nur sein, sondern DAS Meisterwerk schlechthin gelungen!

10/10

Dringend im Kino zu Empfehlen:
Der Film läuft noch heut Sa, So, Do jeweils um 21:15 im Ostentor-Kino.

(gestern mit 8 weiteren Leuten im Saal gesehen: Eine traurige Schande)

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Mi 19. Feb 2020, 19:19
von DaBeda
U.a. speziell @ onki:

Hab mir jetzt kürzlich erst nach meiner persönlich ersten frühherbstlichen Kino(premiere)session Midsommar sowohl in der DVD Directors Cut Langfassung (OT) als auch die etwas kürzere Kinoversion (deutsch) noch einmal genüsslich gegeben (seit Kurzem erhältlich).

Bin nach wie vor aber mal sowas von begeistert von dem Meisterwerk und wollte dir einfach auch noch einmal auf diesem Wege mitteilen, lieber onki, wie perfekt treffend dein Statement/Analyse zu dem Film war!

Was der geniale Ari Aster da wohl noch für Schätze und auch weitere Ideen in "seiner Schublade/seinen Schubladen" verborgen hat?, eigenen Aussagen sinngemäß nach ja so einiges, und sogar schon zur Umsetzung bereit, auch vom jeweiligen Genre breit gefächert.
Man darf wirklich mehr als erwartungsfroh gespannt sein! :D
Freude pur jetzt schon in der Hinsicht!

Nur noch kurz ein zusätzliches Wort zu Midsommar:
Unvergessliche, so noch kaum im Filmgenre dagewesene Sequenzen in dem Werk, die lange Zeit im Gedächtnis haften bleiben und einen tatsächlich, teils sprachlos, zuweilen gar fassungslos wirkend in geradezu beispielsloser Art und Weise fesselnd vereinnahmen!
Ja, durchaus auch heftig in einigen Passagen, aber u.a. auch hoher ästhetischer Faktor und von prägender Qualität und teils explizit hohem Anspruch in vielen Bereichen!

Re: Filme und Bücher

Verfasst: So 23. Feb 2020, 15:09
von onki
DaBeda hat geschrieben: Mi 19. Feb 2020, 19:19 U.a. speziell @ onki:

Hab mir jetzt kürzlich erst nach meiner persönlich ersten frühherbstlichen Kino(premiere)session Midsommar sowohl in der DVD Directors Cut Langfassung (OT) als auch die etwas kürzere Kinoversion (deutsch) noch einmal genüsslich gegeben (seit Kurzem erhältlich).

Bin nach wie vor aber mal sowas von begeistert von dem Meisterwerk und wollte dir einfach auch noch einmal auf diesem Wege mitteilen, lieber onki, wie perfekt treffend dein Statement/Analyse zu dem Film war!

Was der geniale Ari Aster da wohl noch für Schätze und auch weitere Ideen in "seiner Schublade/seinen Schubladen" verborgen hat?, eigenen Aussagen sinngemäß nach ja so einiges, und sogar schon zur Umsetzung bereit, auch vom jeweiligen Genre breit gefächert.
Man darf wirklich mehr als erwartungsfroh gespannt sein! :D
Freude pur jetzt schon in der Hinsicht!

Nur noch kurz ein zusätzliches Wort zu Midsommar:
Unvergessliche, so noch kaum im Filmgenre dagewesene Sequenzen in dem Werk, die lange Zeit im Gedächtnis haften bleiben und einen tatsächlich, teils sprachlos, zuweilen gar fassungslos wirkend in geradezu beispielsloser Art und Weise fesselnd vereinnahmen!
Ja, durchaus auch heftig in einigen Passagen, aber u.a. auch hoher ästhetischer Faktor und von prägender Qualität und teils explizit hohem Anspruch in vielen Bereichen!
ähm, ja Danke Beda... ist halt auch nur eine Interpretation ohne Allgemeingültigkeit.

Ja, habe nun den Directors Cut auch gesehen...hm.
Bisschen enttäuschend für mich, da ich gravierendere Zusätze erwartet hätte als ein paar eher belanglosere Dialoge sowie sekundenweise längere Einstellungen bei ein paar Blut-Szenen.
In Summe haben beide Varianten ihre Berechtigung und ich hab mir auch beide behalten. Die Langfassung wurde von A. Aster m. E. zurecht etwas gestrafft und hat meiner Meinung nach mehr Flow...

Auch bei der Nachsichtung begeistert Midsommar mit seinem unkonventionellen Ansatz.
Aster, Lanthimos, Guadagnino und Eggers (auf seinen Nosferatu in 2022 bin ich schon gespannt!) gelten für mich als die Neue Riege anspruchsvoller Regisseure. Gute Zeiten.

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Fr 27. Mär 2020, 16:17
von onki
Wieder mal Zeit um für Schnappatmung zu sorgen...
Eine Film-Empfehlung :D

HAGAZUSSA - Der Hexenfluch
Jahr: 2017, Regie: Lukas Feigelfeld

Handlung:
Österreich im 15. Jahrhundert: Die junge Ziegenhirtin Albrun (Celina Peter) lebt mit ihrer Mutter (Claudia Martini) in einer einsamen Hütte in den Bergen. Als wäre das Leben dort noch nicht hart genug, erkrankt die Mutter des Mädchens schwer und lässt ihre traumatisierte Tochter schließlich allein zurück.

Viele Jahre später hat Albrun (Aleksandra Cwen) selbst ein Kind und wird als Mutter ohne Ehemann von der Dorfgemeinschaft ausgegrenzt. Sie ist als Hexe und Heidin verschrien und tatsächlich glaubt sie, eine düstere Präsenz in den Wäldern zu spüren. Die vorsichtige Freundschaft mit einer Frau des Ortes bringt für Albrun schließlich düstere Erinnerungen und paranoide Wahnvorstellungen zurück, die die Grenze zwischen Wirklichkeit und Einbildung verschwimmen lassen.


KRITIK:
>> mit Spoilern <<

Ein polarisierendes Werk, dass durchweg kontroverse Reaktionen hervorruft. Visuell, atmosphärisch wie auch von der stummen, metaphorischen Erzählweise her eine absolute Reminiszenz an von Triers Meisterwerke vom Kaliber 'Antichrist'.

Kein Film in dem man sich mit starren, landläufigen Genre-Vorstellungen hinein verirren sollte.
Leider hat 'Hagazussa' einen ebenso unpassenden wie irreführenden Untertitel verpasst bekommen: "Der Hexenfluch".
Wer hier einen Horrorfilm erwartet wird enttäuscht sein. Wer hier einen einfachen Film erwartet wird irritiert sein.
Denn obwohl in diesem Film kaum gesprochen wird, ist er weit davon entfernt einfach zu sein.

Im Kern ist 'Hagazussa' eine tragische Geschichte zu einem Freitod - erzählt in gewaltigen Bildkompositionen. Die voyeuristische Kamera zeigt das traumatische Geschehen mit all seinen drastischen und abseitigen Auswüchsen aus unterkühltem, unbeteiligten Blickwinkel... lässt Ungeheuerliches ohne jegliche Wertung geschehen. Das ist ohne Zweifel harte Arthouse-Kost und bedarf an dieser Stelle nochmals eine deutliche Warnung an Unbedarfte.

Eine der vielen Schlüsselszenen, die Pilzverspeisung im Wald, lässt das Geschehen vollends aus den Fugen geraten.
Der Bilderfluss gerät in ein verschwommenes, diffuses Schattenspiel aus Wahn und Realität, nur um gegen Ende in ein unausweichliches Ganzes zu verschmelzen: Den Freitod.

Ein Film der lange nachhallt.
Der immer wieder penetrierte Vergleich mit 'The Witch" ist in meinen Augen schwer nachvollziehbar.
Der bereits erwähnte 'Antichrist' von Lars von Trier kommt dem Dargestellten aus 'Hagazussa' visuell und auch thematisch (in Sachen drastischer Traumaverarbeitung, Schizophrenie) sehr viel näher.
Eine Hexen-Thematik welche nur vordergründig aus dem einfältigen Umfeld, den Mythen der Wälder genährt bzw. angestoßen wird. Aus meiner Sicht, ein maximal glaubhafter Trip in einer Posttraumatischen Belastungsstörung in hypnotischen bitter-poetischen Bildern.

Aus meiner Sicht ein Geniestreich!
9/10

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Fr 3. Apr 2020, 07:52
von onki
Eine weitere Film-Empfehlung (auf Netflix zu sehen).

Der Schacht
Jahr: 2019, Regie: Galder Gaztelu-Urrutia

Ein düsterer Schacht mit schier unendlichen Ebenen. Ebenen, die unterschiedliche Qualitätsstufen des Lebens bzw. Überlebens darstellen - von oben nach unten, vom Überfluss bis zum sicheren Verrecken. Eine Allegorie auf eine entfesselte Hölle; auf das nackte Klassensystem; auf den Kapitalismus; auf die Arbeitswelt - monatlich neu gemischt. Monat für Monat werden die Insassen willkürlich im Ebenen-Rang "umbesetzt". Das soziale Verhalten, wie auch die Perspektive von Unten nach Oben bzw. Oben nach Unten wird von allen Insassen schonungslos und wiederholt durchlebt. Der Überlebenstrieb fördert primitivste Instinkte zu Tage. Doch nicht alle wollen sich dieser Rollenverteilung fügen...

Das finale Experiment der Menschheit.
Das Scheitern sozialer Ideale und Ziele in einem einzigen langen Schacht komprimiert zur Schau gestellt - gleich einem Reagenzglas.
Eine Allegorie auf eine entfesselte Hölle, auf das nackte Klassensystem, auf den Kapitalismus, auf die Arbeitswelt - monatlich neu gemischt.
Ein bitterer Abgesang auf die gesellschaftstheoretische Utopie von Freiheit und Gleichheit namens "Kommunismus", wie auch auch auf das Funktionsprinzip des Kapitalismus... Ein Abgesang auf sämtliche konstruierte Systeme und Lebensentwürfe. Fernab von Business, Kultur, Intellekt, Nadelstreifen und Stöckelschuh... die Rohheit wilder Natur wird nur von dünner Haut bedeckt. Offengelegt bleibt allein der animalische Instinkt des Lebewesens Mensch.
333 Ebenen für je 2 Personen. 666 die Zahl des Tiers.
Die Opfergeschichte von Jesus Christus als zeitgenössische Neuinterpretation (Opferung durch Erhängen) in einem apokalyptischen, brutalen Alle-gegen-alle Umfeld.

Nichts für Zartbesaitete und nichts weniger als ein Meisterwerk.

10/10

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Fr 3. Apr 2020, 11:29
von KLP
Obwohl ich nicht sehr viele Filme schaue, über den bin ich auch drübergestolpert. Ein guter Film zu einem perfekten Zeitpunkt.

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Fr 3. Apr 2020, 14:14
von Hille
onki hat geschrieben: Fr 3. Apr 2020, 07:52
Ein bitterer Abgesang auf die gesellschaftstheoretische Utopie von Freiheit und Gleichheit namens "Kommunismus", wie auch auch auf das Funktionsprinzip des Kapitalismus... Ein Abgesang auf sämtliche konstruierte Systeme und Lebensentwürfe.
Ganz im Gegenteil und auch nichts Neues. Was du da als Abgesang bezeichnest ist Teil der bekannten Überbau-Basis Theorie, die vor allem Brecht in allen möglichen Stücken schon dutzende Male beleuchtet hat ("Heilige Johanna der Schlachthöfe", "Der gute Mensch von Sezuan", nur so als Beispiele).

"Sämtliche konstruierte Systeme" ist mir auch zu übertrieben, dazu müsste der Film erstmal "sämtliche" mit einarbeiten, was er nicht getan hat (und was auch gar nicht geht).

Da mir die Finesse fehlt, Stilmittel in Filmen irgendeiner Bedeutung beizumessen, bin ich sicher der Falsche um da eine Filmkritik schreiben zu können. Für mich ist der Film eine Beschreibung bestehender Systeme und eines bestehenden menschlichen Habitus' (der sich aus dem bestehenden System ausbildet). Damit ich nicht falsch verstanden werde: der Film ist schon gut. Aber was dramatisch Neues bietet er jetzt auch nicht.

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Fr 3. Apr 2020, 15:51
von onki
Hille hat geschrieben: Fr 3. Apr 2020, 14:14
onki hat geschrieben: Fr 3. Apr 2020, 07:52
Ein bitterer Abgesang auf die gesellschaftstheoretische Utopie von Freiheit und Gleichheit namens "Kommunismus", wie auch auch auf das Funktionsprinzip des Kapitalismus... Ein Abgesang auf sämtliche konstruierte Systeme und Lebensentwürfe.
Ganz im Gegenteil und auch nichts Neues. Was du da als Abgesang bezeichnest ist Teil der bekannten Überbau-Basis Theorie, die vor allem Brecht in allen möglichen Stücken schon dutzende Male beleuchtet hat ("Heilige Johanna der Schlachthöfe", "Der gute Mensch von Sezuan", nur so als Beispiele).

"Sämtliche konstruierte Systeme" ist mir auch zu übertrieben, dazu müsste der Film erstmal "sämtliche" mit einarbeiten, was er nicht getan hat (und was auch gar nicht geht).

Da mir die Finesse fehlt, Stilmittel in Filmen irgendeiner Bedeutung beizumessen, bin ich sicher der Falsche um da eine Filmkritik schreiben zu können. Für mich ist der Film eine Beschreibung bestehender Systeme und eines bestehenden menschlichen Habitus' (der sich aus dem bestehenden System ausbildet). Damit ich nicht falsch verstanden werde: der Film ist schon gut. Aber was dramatisch Neues bietet er jetzt auch nicht.
Wir schreiben das Jahr 132 nach Erfindung des Films.
"Dramatisch Neues" erwarte ich weder im intellektuellen noch im ewig wiederkäuenden Blockbuster-Mainstream Filmsektor...
war hier auch nicht die Rede davon.

Überbau-Basis Theorie ist mir ein Begriff (hatte sogar eine zeitlang im entsprechendem Ü-Theater Regensburg gespielt!)... aber dieses Theorie-Faß in einer Filmbesprechung aufreissen?
...um den Hass-Faktor meiner "gspinnerten" Film-Themen noch etwas Nachhilfe zu verleihen? :-)

Das mit "sämtliche konstruierte Systeme" habe ich tatsächlich so gemeint, wie ich es geschrieben habe...
denn wenn der Mensch im Überlebensrausch auf die niedersten animalischen Instinkt-Triebe zurückfällt, dann ist wirklich JEDES konstruierte, aufgestülpte System oder ansonsten funktionierendes Prinzip nichtig und irrelevant. Wobei die Szenen der unteren Ebenen des Schachts der Allegorie "entfesselte Hölle" durchaus entsprechen.

Re: Filme und Bücher

Verfasst: Fr 3. Apr 2020, 15:59
von onki
Hille hat geschrieben: Fr 3. Apr 2020, 14:14
onki hat geschrieben: Fr 3. Apr 2020, 07:52
Ein bitterer Abgesang auf die gesellschaftstheoretische Utopie von Freiheit und Gleichheit namens "Kommunismus", wie auch auch auf das Funktionsprinzip des Kapitalismus... Ein Abgesang auf sämtliche konstruierte Systeme und Lebensentwürfe.
Ganz im Gegenteil und auch nichts Neues. Was du da als Abgesang bezeichnest ist Teil der bekannten Überbau-Basis Theorie, die vor allem Brecht in allen möglichen Stücken schon dutzende Male beleuchtet hat ("Heilige Johanna der Schlachthöfe", "Der gute Mensch von Sezuan", nur so als Beispiele).

"Sämtliche konstruierte Systeme" ist mir auch zu übertrieben, dazu müsste der Film erstmal "sämtliche" mit einarbeiten, was er nicht getan hat (und was auch gar nicht geht).

Da mir die Finesse fehlt, Stilmittel in Filmen irgendeiner Bedeutung beizumessen, bin ich sicher der Falsche um da eine Filmkritik schreiben zu können. Für mich ist der Film eine Beschreibung bestehender Systeme und eines bestehenden menschlichen Habitus' (der sich aus dem bestehenden System ausbildet). Damit ich nicht falsch verstanden werde: der Film ist schon gut. Aber was dramatisch Neues bietet er jetzt auch nicht.
Wir schreiben das Jahr 132 nach Erfindung des Films.
"Dramatisch Neues" erwarte ich weder im intellektuellen noch im ewig wiederkäuenden Blockbuster-Mainstream Filmsektor...
war bisher auch nicht die Rede davon.

"Neu" ist hier lediglich der fliegende Wechsel in der Klassenzugehörigkeit: und zwar monatlich!
Das eröffnet interessante Aspekte. Interessant vor allem weil die Protagonisten eben nicht Milde und Demut walten lassen, sobald sie sich auf höheren Ebenen befinden, da sie sich ja schließlich selbst noch vor wenigen Tagen "unten" befanden...
Nein, sie treiben das Rollenspiel genüsslich auf die Spitze: Scheissen, pissen, spucken in die unteren Ebenen.
Frei nach dem Motto "jetzt bin ich dran, ihr Arschlöcher!"
Das Prinzip (und viel zitierte Gewerkschafts-Argument) "es braucht oben nur genügend echte Vertreter aus unteren Klassen" greift hier ins Leere.

Überbau-Basis Theorie ist mir ein Begriff (hatte sogar eine zeitlang im entsprechendem Ü-Theater Regensburg gespielt!)... aber dieses Theorie-Faß in einer Filmbesprechung aufreissen?
...um dem Hass-Faktor meiner "gspinnerten" Film-Themen noch etwas Nachhilfe zu verleihen? :-)

Das mit "sämtliche konstruierte Systeme" habe ich tatsächlich so gemeint, wie ich es geschrieben habe...
denn wenn der Mensch im Überlebensrausch auf die niedersten animalischen Instinkt-Triebe zurückfällt, dann ist wirklich JEDES konstruierte, aufgestülpte System oder sonst funktionierende Prinzip nichtig und irrelevant.
Da ist nichts mehr mit Liberté, Égalité, Fraternité... Auf Normen und Wert wird spätestens in diesem Stadium im wahrsten Sinne des Wortes geschissen.
Selbst die letzten paar Hansel, die das Prinzip Veränderung/Solidarität/Gleichheit propagieren, sind mit Mord und Totschlag ganz vorne mit dabei...
Wobei allgemein die Szenen der unteren Ebenen des Schachts der Allegorie "entfesselte Hölle" durchaus treffend entsprechen.