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JahnRGBG
So 10. Mär 2024, 20:41
Nachdem ich mich seit geraumer Zeit in den Foren im Hintergrund gehalten habe, war ich gestern mehrfach kurz davor meine Gedanken zum gestrigen Spiel und dessen Begleiterscheinungen zu verschriftlichen. Aus der Emotion heraus hatte ich bereits unterschiedliche Texte verfasst, um letztendlich doch erstmal eine Nacht darüber zu schlafen. So probiere ich es nun heute mit etwas mehr nüchterner Rationalität, als es mir gestern möglich gewesen wäre. Vorausgeschickt: Ich war in meiner Sturm- und Drangphase selbst stark szeneorientiert, hätte mich damals zu den „Vielfahrern“ gezählt und konnte deshalb seither ein deutlich umfangreicheres Verständnis für die Ansichten von Ultras/ aktiven Fanszenen aufbringen, als das für einen Durchschnitts- oder Teilzeitfan gelten dürfte, bin allerdings heute „nur“ noch Dauerkarteninhaber, Mitglied und „eher seltener Auswärtsfahrer, wenn es Zeit und Verantwortung zulassen“. Doch zunächst zum Ablauf aus meiner subjektiven Sicht:
1) Gestern war in meinen Augen eines der wichtigsten Spiele (wenn nicht DAS wichtigste Spiel) seit dem Abstieg der vergangenen Saison. Nicht etwa weil es sich um ein Derby oder kein Derby gegen einen unliebsamen Gegner handelte - die Diskussion darüber wurde schon zu genüge geführt - sondern weil wir nach einer sportlich schlechten Serie und dem Zusammenschmelzen unseres Vorsprungs vor diesem Spieltag erstmals seit langer Zeit um einen direkten Aufstiegsplatz bangen mussten.
2) Jeder der den Jahn im Herzen trägt, wollte gestern alles dazu beitragen, um gemeinsam den Bock umzustoßen. Eine volle HJT mit all Ihrer Wucht und Leidenschaft (wenn sie denn mal gut aufgelegt ist, und ich glaube das wäre sie gestern durchaus gewesen) wäre für dieses Vorhaben sicherlich kein zu vernachlässigender Faktor gewesen.
3) Kurz vor Anpfiff wurde vom Vorsänger verkündet, es würde keine aktive Unterstützung in der ersten Hälfte geben. Meine spontane Reaktion und nach meinem Empfinden auch die Reaktion vieler, die sich in meiner unmittelbaren Umgebung (s2 oben, also nicht der Kern des Stimmungsblocks, aber durchaus supportwilliges Publikum): Enttäuschung, Verwirrung, Unverständnis und Augenrollen, ob der Reaktion auf das Hausverbot EINES nicht weiter spezifizierten - man könnte als unbeteiligter auch überspitzt sagen x-beliebigen - Fans. So kam es zumindest sicherlich bei den meisten aufgrund der kurzen und knappen „Erklärung“ des Vorsängers an. Die Diskussion über die Frage berechtigt oder unberechtigt spielt aus meiner Sicht an dieser Stelle keine Rolle, da die Frage von vermutlich maximal einer Handvoll Menschen auf der HJT zu diesem Zeitpunkt verlässlich hätte beantwortet werden können, da man bei dem Vorfall schlicht dabei gewesen hätte sein müssen, um ihn abschließend beurteilen zu können. Kurzer Einschub, da ich mehrfach davon in diesem Zusammenhang gelesen habe: Die Vorgänge in Fürth (hier war ich damals ebenso vor Ort) sehe ich als nicht ansatzweise vergleichbar, da damals der Vorfall viel einfacher für eine Großzahl von Menschen beurteilbar war (eine große Anzahl von Menschen war von mittelbarer oder unmittelbarer körperlicher Gewalt betroffen - solidarisches Handeln war also glasklar für Menschen mit Gerechtigkeitssinn das Gebot der Stunde). Gestern war der Vorfall für unbeteiligte viel weniger greifbar und nicht derart umfangreich nachvollziehbar.
4) Doch zurück zum eigentlichen Geschehen und einem aus meiner Sicht wichtigen Fakt - Trotz großem Unverständnis über die Entscheidung „kein Support in HZ1“ zu diesem Zeitpunkt keine, oder wenn nur sehr sehr wenige vereinzelte Unmutsbekundungen der „normalen“ Fans. Ich hätte es mit einer Portion Wohlwollen vermutlich als „stillschweigende Zustimmung“ gedeutet.
5) als sich dann jedoch Teile der „normalen“/ nicht-ultra Fans um so etwas wie Support für die Mannschaft bemühten, die sich sichtlich schwer tat im Spiel: Argwöhnische Blicke, verächtliche Gesten aus Teilen des Stimmungskerns in Richtung der umgebenden Fans, die versuchten Lieder anzustimmen. In S2 dann sogar kleine Grüppchen, die aus dem Stimmungskern nach oben wanderten, um supportwillige Fans zurechtzuweisen und diese zum Einstellen des Supports aufzufordern. Und spätestens hier sehe ich den Kern des Problems - doch darauf möchte ich später näher eingehen.
6) Teile der supportwilligen Fans haben in der Folge ebenfalls mit Gesten Richtung Stimmungskern reagiert im Sinne von „wieso sollten wir uns von euch denn den Mund verbieten lassen?“. Die Stimmung schaukelte sich daraufhin auf, was sicherlich auch den Zuschauern in S1 und S3 nicht verborgen blieb.
7) Als dann mit Ende der ersten Halbzeit vom Vorsänger wieder zur Unterstützung der Mannschaft aufgerufen wurde, gab es auf der HJT ein Pfeifkonzert, das ich zuvor in dieser Form seltenst, vielleicht sogar noch nie, miterlebt habe. Als sich dann zusätzlich Teile von S1 und S3 auch noch dem Support verweigerten (hierin sehe ich eine gewisse Trotzreaktion aus meinen Ausführungen in Punkt 6), war die Situation zu festgefahren um sie noch zu retten. Die Reaktion des Vorsängers (in etwa „wer jetzt nicht mitmacht, dem kann die Mannschaft nicht am Herzen liegen“) war dann nur noch der letzte Sargnagel in einem für alle Beteiligten, ja man muss es so nennen, Fiasko auf ganzer Linie.
Fragen die sich die organisierten Fans an dieser Stelle sicherlich gefallen lassen müssen:
- war es notwendig, den Boykott über die gesamte erste Halbzeit durchzuziehen?
- Hätte es nicht zunächst eine differenzierte Analyse der Vorkommnisse im Zusammenhang mit dem Hausverbot für eine Einzelperson gebraucht, statt direkt die große Keule zu schwingen?
- War der Boykott überhaupt im Sinne desjenigen, der betroffen war? Ich würde, wäre ich derjenige, nicht im entferntesten auf den Gedanken kommen, dass 6000 Menschen, von denen mich vermutlich mindestens 5950 nicht einmal kennen, ihre Solidarität zum Ausdruck bringen sollen und das auch noch zum Leidwesen der Mannschaft, ja des ganzen Vereins.
- Woher nehmen sich einzelne Personen das Recht, anderen den Mund zu verbieten, nur weil man nicht derselben Meinung ist? Ich habe die organisierte Fanszene bislang eigentlich immer als demokratisch geprägt wahrgenommen und hierzu gehört es auch andere Meinungen zu akzeptieren und vor allem auch den Willen der Mehrheit zu respektieren. Die deutliche absolute Mehrheit war gestern eben nicht für den Boykott zu begeistern.
- Und eine persönliche letzte Frage: Warum muss ich mich als Jahnfan mit Leib und Seele und mehreren hundert Spielen vor jugendlichen Halbstarken persönlich dafür rechtfertigen, dass ich mich nicht am Boykott beteiligen wollte, wo mir der Boden, auf dem dieser konstruiert war nicht ansatzweise tragfähig erschien?
Die Fragen lassen sich sicherlich noch weiter ergänzen und manch einer wird sich an dieser Stelle eventuell Fragen, warum ich mir die Mühe mache alles nochmal so ausführlich zu schildern. Der Grund dafür ist der folgende: Es muss eine differenzierte Aufarbeitung und kritische Auseinandersetzung mit der Thematik durch die organisierte Fanszene geben, um nicht im entscheidenden Saisonendspurt neben den derzeitigen sportlichen Problemen auch noch einen Nebenkriegsschauplatz „gespaltene Fangemeinde“ zu eröffnen. Hierzu wird es aus meiner Sicht notwendig sein, dass der aktive Teil der Szene in irgendeiner Form auf die nicht aktiven zugehen muss. Warum? Weil die organisierte (!) Fanszene, und das sagt der Terminus ja in sich selbst schon aus, über die organisatorischen Möglichkeiten verfügt als Sprachrohr für die gesamte Kurve zu fungieren. Ich hingegen, und alle anderen nicht organisierten Fans haben die Möglichkeit wieder einen Schritt auf das Gegenüber zuzugehen nur bedingt bzw. maximal in individueller Form. Zwar habe ich gestern das Angebot unseres Vorsängers wahrgenommen, mit diesem in den Dialog zu treten, doch glaube ich weder, dass gestern der richtige Rahmen aufgrund der aufgeheizten und emotionalen Stimmung aller Beteiligter war, noch glaube ich, dass dieses Angebot von vielen Personen in Anspruch genommen werden dürfte, die sich als eher szenefern einordnen würden.
Abschließend möchte ich noch folgendes zum Ausdruck bringen: die HJT ist ohne Ultras nicht Mal ein Schatten ihrer selbst. Doch der gestrige Tag hat gezeigt, dass auch die Ultras ohne die breite Masse der normalen Fans nicht viel bewegen können. Es geht also nur gemeinsam und daher sollten wir schnell wieder den Geist der JAHNFAMILIE aufleben lassen, um im Saison-Endspurt alle gemeinsam an einem Strang ziehend das große Ziel Wiederaufstieg doch noch irgendwie zu realisieren.