Der Geschichts-Thread

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Socrates
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 55019Beitrag Socrates
Sa 6. Feb 2021, 14:01

Zum Thema britisches Geschichtsbewußtsein und Nationalismus: Hab mal irgendwo gelesen, dass es den Briten peinlich ist, dass ein Teil ihrer Vorfahren "Krauts" (Angelsachsen, die nach dem Abzug der Römer das Machtvakuum aufgefüllt haben) sind? Stimmt das?

Zum Thema Sondengänger: Es war schließlich der pensionierte englische Major Clunn, der die entscheidenden Funde zur Erforschung des Schlachtfeldes von Kalkriese (sehr wahrscheinlich Ort der Varusschlacht) gemacht hat. Etliche spektakuläre Funde der letzten Jahre wurden durch Laien gemacht, wenn auch nicht immer legal: Die Himmelsscheibe von Nebra, die Schlacht am Harzhorn oder die bronzezeitliche Schlacht im Tollensetal.

PS: Und Danke für den Link. Bin dem phantastischen Helm von Sutton Hoo vor rund 20 Jahren "Auge in Auge" gegenübergestanden.
"Wenn wir hier nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt."

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Bene
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 55023Beitrag Bene
Sa 6. Feb 2021, 16:40

Ja, es gibt zum Teil herausragende Funde, die Laien als Sondengeher ans Licht gebracht haben.
Es gibt aber auch jedes Jahr unzählige durch Sondengeher und Raubgräber zerstörte Bodendenkmäler. Über diese Schattenseiten liest man natürlich in der Presse kaum was. Ist ja auch nicht so spektakuär. Ich finde die Zahlen, wonach in Bayern angeblich mehrere tausend Sondengeher unterwegs sind, aber gleichzeitig nicht mehr als zwanzig Sondengeher jährlich ihre Funde beim Landesamt melden, schon gruselig.
Wichtig wäre halt eine gute Zusammenarbeit von Laien und Hauptamtlichen von Anfang an. Ich glaube, im Falle von Kalkriese und Tony Clunn war dies der Fall. Aber solche Zusammenarbeiten scheinen wohl eher die Ausnahme zu sein.
Hille kann zu dem Thema sicher noch mehr dazu sagen.

P.S.: Soweit ich weiß, wurde das Tollense-Schlachtfeld nicht von einem Sondengeher, sondern von einem Schlauchbootfahrer, der am Ufer Skelettreste fand, entdeckt.

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Socrates
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 55025Beitrag Socrates
Sa 6. Feb 2021, 17:49

Bene hat geschrieben: Sa 6. Feb 2021, 16:40 Ja, es gibt zum Teil herausragende Funde, die Laien als Sondengeher ans Licht gebracht haben.
Es gibt aber auch jedes Jahr unzählige durch Sondengeher und Raubgräber zerstörte Bodendenkmäler. Über diese Schattenseiten liest man natürlich in der Presse kaum was. Ist ja auch nicht so spektakuär. Ich finde die Zahlen, wonach in Bayern angeblich mehrere tausend Sondengeher unterwegs sind, aber gleichzeitig nicht mehr als zwanzig Sondengeher jährlich ihre Funde beim Landesamt melden, schon gruselig.
Wichtig wäre halt eine gute Zusammenarbeit von Laien und Hauptamtlichen von Anfang an. Ich glaube, im Falle von Kalkriese und Tony Clunn war dies der Fall. Aber solche Zusammenarbeiten scheinen wohl eher die Ausnahme zu sein.
Hille kann zu dem Thema sicher noch mehr dazu sagen.

P.S.: Soweit ich weiß, wurde das Tollense-Schlachtfeld nicht von einem Sondengeher, sondern von einem Schlauchbootfahrer, der am Ufer Skelettreste fand, entdeckt.
Ja, das sind natürlich die Schattenseiten. Wer weiß, was da schon verlorengegangen ist. Typisch dazu paßt ja die Geschichte, dass die Sondengänger am Harzhorn zuerst dachten, sie hätten einen mittelalterlichen Kerzenständer ausgegraben und erst lange danach wurde festgestellt, dass es sich um einen Pferdeschuh aus der Römerzeit handelte. Wenn die das nicht ins Internet gestellt hätten, wäre dieser Sensationsfund (neben Kalkriese wohl das am besten erforschte Schlachtfeld der Antike) nie ans Tageslicht gekommen.

Ja, der Entdecker von Tollense war ein Hobbyarchäologe, der mit dem Schlauchboot unterwegs war. Da müssen die Knochen tatsächlich aus der Erde geragt haben.
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Hille
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 55029Beitrag Hille
Sa 6. Feb 2021, 19:08

Die Sondengeher Thematik ist natürlich eher schwierig. Den paar Jahrhundertfunden stehen hunderttausende an wild rausgerissenen Metallfunden ohne jeglichen Kontext entgegen, die einfach aus persönlicher Prestige- oder Gewinnsucht gemacht werden. Ich sags ganz klar: jeder der mit der Sonde ein Signal hat und den Spaten in die Hand nimmt macht sich in meinen Augen eines Verbrechens gegen die Wissenschaft schuldig. In meinen Augen sind Funde ohne Kontext wertlos. Wenn die Himmelsscheibe nicht lokalisiert hätte werden können und es keine Nachgrabungen gegeben hätte, wäre das Ding eine krude Metallscheibe mit Sachen drauf ohne realen wissenschaftlichen Wert (überspitzt formuliert). Es ist mir egal, ob jemand am Bisamberg in Wien das 20. Laténe-Schwert findet, ohne Befundzusammenhang würdige ich das keines Blickes.

Ich bin da aber extrem, ich weiß. Die Zusammenarbeit scheitert an mehreren Dingen, nicht nur an der Amtsarchäologie. Ein großes Problem ist die Finanzierung. Es gibt im Amt schlicht nicht genügend Planstellen, um sich um sowas flächendeckend zu kümmern. Grabungen z.B. auf Verdacht oder nach Fund durch Ehrenamtlichen kann das Amt in den seltensten Fällen realisieren, sofern kein akuter Fall von Gefahr im Verzug statt findet. Eine Fundstelle bei der ein Sondengeher z.B. in einer Tiefe von 50cm ein Signal hat, bleibt in 100% aller Fälle auf dem offiziellen Weg genau das: ein Signal. Gegraben wird von Amtsseite nur wenn Notwendig, alles andere wäre ein Fall für die Forschung (Universitäten, DAI...). Und ums ganz klar zu sagen: das ist nicht grundsätzlich schlecht. Was ein Archäologe im 1. Semester lernt ist, dass eine Ausgrabung vor allem immer eins ist: eine kontrolliert durchgeführte und dokumentierte Zerstörung. Eine Ausgrabung darf nicht zum Selbstzzweck verkommen, also quasi eine Grabung um der Grabung willen, sondern braucht einen guten Grund. Und der einzige gute Grund eine GRabung durchzuführen (von einer Rettungsgrabung mal abgesehen) ist eine konkrete Forschungsfrage, die durch eine Ausgrabung beantwortet werden kann. Alles andere ist Tomb Raider oder Indiana Jones. Ich kann den Entdeckerdrang eines jeden Interessierten total verstehen, mir gehts ja nicht anders. Aber das muss in wissenschaftlich methodisch korrekten Bahnen laufen, sonst ist jede Aussagekraft in Gefahr.

PS: Ob Kalkriese der tatsächliche Ort der Varusschlacht war, ist soweit ich weiß höchst umstritten.
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Hille
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 55035Beitrag Hille
Sa 6. Feb 2021, 22:38

Also zuerst mal ist das natürlich der erste und beste Schritt, mit den Fachbehörden zusammenzuarbeiten.

Aber die Behördensicht ist in der Community nicht unumstritten. Ich erzähle das nicht, weil ich dir irgendwas einreden will, sondern nur, damit man mal einen Eindruck vom Diskurs bekommt. Meine Sicht der Dinge ist folgende:

Zerstörung beginnt ab dem ersten Spatenstich, auch im Humus. Ich habe z.B. in Ostösterreich mal römische Gräber aus dem Humus gezogen, da kann gar nicht die Rede davon sein, dass es da keine Befundzusammenhänge mehr gibt. Das ist natürlich nicht die Amtsmeinung, sonst müsste man die tägliche Praxis auf Rettungsgrabungen hinterfragen, maschinelle Oberbodenabträge in dem Ausmaß zu machen, in dem wir es durchführen. Eine Folge davon wäre, dass die Bauherren tatsächlich mal mehr als einen Promillebereich ihrer Baukosten in die Denkmalpflege stecken müssten, und das ist politisch und ökonomisch nicht gewollt. (Das ist keine Verschwörungstheorie sondern die Sachlage. Man darf sich bei 20 Mio. Euro Projekten für die Kosten einer Ausgrabung tagtäglich rechtfertigen und angreifen lassen, die maximal 50-100.000 Euro betragen. Hab ich mehr als einmal erlebt.).

Die Frage des Interesses ist auch so eine Sache. Die Ämter interessieren sich Stand 2021 noch nicht erheblich für Neuzeit und zeitgeschichtliche Archäologie. Das ist eine Tatsache, die Leute wie ich zu ändern gedenken. Ich habe, zur Erklärung, unter anderem einen Abschluss in Historischer Archäologie mit Schwerpunkt Zeitgeschichte (v.a. Holocaust Archaeologies). Es gibt hier mittlerweile mehrere Lehrstühle im deutschsprachigen Raum, woanders ist das längst Usus (UK, USA...). Was für das BlfD interessant ist, ist für mich unerheblich. Was wissenschaftlich Interessant ist, ist relevant. Und natürlich ist meines erachtens auch die tausendste Musketenkugel noch spannend, weil es letztendlich nicht um die Funde an sich geht. Sondern um Verteilung, Funddichte, Feindatierung, Kontext usw. Im Endeffekt zeigen uns diese Funde doch etwas. Eine Musketenkugel ist keine Musketenkugel, sondern abgesehen davon noch ein Anzeiger eines Events, eines Produktionsverhältnisses, eines soziokulturellen Zusammenhangs (Wann geschah was, wo und warum und wie kams dazu? Wer war beteiligt und warum?). Ich kann versuchen zu ergründen, warum die Musketenkugel dort liegt (Schlacht?), wo wurde sie hergestellt (Land, Landkreis, Stadt?), welche Leute waren an der Herstellung beteiligt, woher kam das Blei? Und so weiter. Eine Musketenkugel ist (für mich) irre interessant!

Das nur mal zu meiner Sicht. Ich hoffe das ist nicht zuviel, und ich will auch niemanden attakieren oder so. Ich finds gut, dass du das so machst, wie du das machst. Und jeder, der sich interessiert, dazu beiträgt und aktiv einbringt ist wichtig und das führt dazu, dass man einen größeren und besseren Blickwinkel auf unsere Entwicklung und Geschichte bekommt.

edit: ich glaub ich hab grad auf einen Beitrag geantwortet, der nicht mehr da ist... :D
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Bene
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 55036Beitrag Bene
Sa 6. Feb 2021, 23:01

Hille hat geschrieben: Sa 6. Feb 2021, 22:38 edit: ich glaub ich hab grad auf einen Beitrag geantwortet, der nicht mehr da ist... :D
Ja, so gings mir auch grad. Ich hab dann meinen Beitrag wieder gelöscht...

Iarwain
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 55037Beitrag Iarwain
So 7. Feb 2021, 00:09

Gibt es denn eine koordinierte Einbindung von Laien in die wissenschaftliche Arbeit? Das wäre doch sicher hilfreich, oder?
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Hille
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 55038Beitrag Hille
So 7. Feb 2021, 00:31

Iarwain hat geschrieben: So 7. Feb 2021, 00:09 Gibt es denn eine koordinierte Einbindung von Laien in die wissenschaftliche Arbeit? Das wäre doch sicher hilfreich, oder?
Es gibt im Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege Stellen für Ehrenamt in der Bodendenkmalpflege bzw. Zuständigkeiten für Lesefundler (Denkmalerfassung). Vieles wird aber über Verine organisiert, z.B. die Deutsche Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte (DGUF) und die Gesellschaft für Archäologie in Bayern.
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 55046Beitrag Bene
So 7. Feb 2021, 12:11

Hille hat geschrieben: So 7. Feb 2021, 00:31
Iarwain hat geschrieben: So 7. Feb 2021, 00:09 Gibt es denn eine koordinierte Einbindung von Laien in die wissenschaftliche Arbeit? Das wäre doch sicher hilfreich, oder?
Es gibt im Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege Stellen für Ehrenamt in der Bodendenkmalpflege bzw. Zuständigkeiten für Lesefundler (Denkmalerfassung). Vieles wird aber über Verine organisiert, z.B. die Deutsche Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte (DGUF) und die Gesellschaft für Archäologie in Bayern.
Das schaut dann in der Praxis so aus, dass es für ganz Bayern zwei spezielle Ansprechpartner*innen für Ehrenamtliche gibt. Einer ist für die Oberpfalz und ganz Franken zuständig, eine für Oberbayern, Niederbayern und Schwaben.
Der für die Oberpfalz zuständige Herr sitzt in der Nähe von Bamberg und die Kollegin, die für Südbayern, aber eben nicht für die Oberpfalz zuständig ist, sitzt im Landesamt in Regensburg... :lol:
Ich hatte weder mit dem einen noch mit der anderen jemals Kontakt.

Und dann gibt es, wie von Hille bereits erwähnt, in jedem Landesamt Mitarbeitende, die für die Entgegennahme und Erfassung der Lesefunde von Ehrenamtlichen zuständig sind.

Die Bayerische Gesellschaft für Archäologie veranstaltet jährlich ein bis zwei Lehrgrabungen, an denen Laien teilnehmen können.
https://www.gesellschaft-fuer-archaeolo ... bungen.php

Insgesamt gesehen ist der Gesamtzustand der Bodendenkmalpflege ein sehr trauriger. Die Bayerische Denkmalpflege hat unter Stoiber (dessen Partei sich Schlagworte wie "Heimatliebe", "kulturelles Erbe", "Bayern bewahren" etc. auf die Fahnen geschrieben hat) einen absoluten krassen Kahlschlag erfahren. Es mangelt hinten und vorne an Personal und Geld.
In den Landesämtern haben sie ganz andere Probleme, als sich groß um die Einbindung von Laien zu kümmern, die dann auch noch zusätzliche Arbeit verursachen.

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KLP
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 56702Beitrag KLP
Mo 26. Apr 2021, 08:54

Archäologen entdecken komplette Stadt unter der Erde - ohne je eine Ausgrabung zu machen
Archäologen haben eine detaillierte Karte der antiken römischen Stadt Falerii Novi erstellt, ohne Ausgrabungen machen zu müssen.
https://www.fnp.de/welt/forscher-archae ... 74183.html

https://www.cambridge.org/core/journals ... 1C54CDD09B

Hille hat mir zwar schon davon erzählt, was alles mit Drohnen, Radar und Co. möglich ist, trotzdem sehr beeindruckend.
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 58468Beitrag Hille
Do 14. Okt 2021, 18:17

Aus aktuellem Anlass (und weil ich ein bisschen stolz bin), möchte ich alle Interessierten auf folgenden krassen archäologischen Befund aus unserem Landkreis hinweisen:

https://www.mittelbayerische.de/region/ ... 50926.html

https://www.idowa.de/inhalt.ausgrabunge ... 05ad7.html

https://www.tvaktuell.com/mediathek/vid ... bedeutung/

https://www.charivari.com/einzigartige- ... ht-141053/


Mein Name wird zwar wie üblich wieder nicht erwähnt ( :wink: ), aber ich habs zusammen mit meinem Grabungsteam letzten Dezember gefunden und ausgegraben. Es handelt sich wirklich um eine europaweit einzigartige "Bestattung" mit einzigartigen Funden. Ich bin gespannt was die weitere Forschung hier ergeben wird und ich hoffe, ich darf in der Umgebung dieses Befundes bald weiter graben.
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 58473Beitrag Bene
Fr 15. Okt 2021, 12:41

Hille, kannst Du noch was dazu schreiben, warum gerade diese Bestattung glockenbecherzeitlich so herausragend ist?
Das kommt in den Berichten (leider sind zwei davon Bezahlberichte) nicht so rüber. Steinmann deutet ja im TVA-Interview an, dass dieses Grab aus den bisherigen Erkenntnissen zur Glockenbecherkultur komplett heraussticht. Aber wieso?

Und natürlich Gratulation an Euer Team und Dich!

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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 58484Beitrag Iarwain
Fr 15. Okt 2021, 20:35

Bene hat geschrieben: Fr 15. Okt 2021, 12:41 Hille, kannst Du noch was dazu schreiben, warum gerade diese Bestattung glockenbecherzeitlich so herausragend ist?
Das kommt in den Berichten (leider sind zwei davon Bezahlberichte) nicht so rüber. Steinmann deutet ja im TVA-Interview an, dass dieses Grab aus den bisherigen Erkenntnissen zur Glockenbecherkultur komplett heraussticht. Aber wieso?

Und natürlich Gratulation an Euer Team und Dich!
Im Charivari-Bericht sind die Besonderheiten auf den fotografierten Tafeln nachzulesen. Würd mich aber natürlich über eine etwas spezifischere Einschätzung von Hille freuen.
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 58488Beitrag Hille
So 17. Okt 2021, 21:42

Bene hat geschrieben: Fr 15. Okt 2021, 12:41 Hille, kannst Du noch was dazu schreiben, warum gerade diese Bestattung glockenbecherzeitlich so herausragend ist?
Das kommt in den Berichten (leider sind zwei davon Bezahlberichte) nicht so rüber. Steinmann deutet ja im TVA-Interview an, dass dieses Grab aus den bisherigen Erkenntnissen zur Glockenbecherkultur komplett heraussticht. Aber wieso?

Und natürlich Gratulation an Euer Team und Dich!
Entschuldige die späte Antwort, war über das Wochenende in Wien. :D

Also, da muss man generell natürlich schonmal bei der Glockenbecherkultur an sich anfangen. Als Kulturerscheinung ist sie an sich pan-europäisch, kommt also von Portugal über Süditalien bis Polen und Schottland im Norden vor. Außerdem kommt diese Kulturerscheinung vor allem in Form von Bestattungen auf uns, Siedlungen sind bisher eher nicht bekannt, bzw. sehr wenig. Die Gräber kommen als Einzelgräber mit einer sehr stark ritualisierten Bestattungsform vor: Nord-Süd orientiert mit Kopf im Norden und Blick nach Osten für Männer und Kopf im Süden Blick nach Osten für Frauen. Alles Hockerbetattungen. Im Vergleich zu Bestattungen anderer archäologischer Kulturen (z.B. UK oder LaTéne) haben wir es hier wie gesagt mit Einzelbestattungen zu tun, wir haben also bedeutend weniger davon als z.B. von Urnenfelderzeitlichen Gräbern.

Das ist das eine, dass ein Glockenbechergrab immer etwas besonderes ist. Jetzt hatten wir auf dieser Fundstelle zwei. Einmal ein "normales" Glockenbechergrab eines etwa 8jährigen Jungen mit einem Gefäß und ein bisschen Silexbeigaben. Da freut sich der Archäologe schon. Ein wenig weiter oben lag aber dann besagte Bestattung, die Grabkammer etwa 3x2 Meter groß inmitten eines Kreisgrabens, sprich das Grab war überhügelt. Das haben wir innerhalb der Glockenbecherkultur höchst selten. Wir sprechen von wenigen Prozent.
Standard innerhalb von Glockenbechergräbern sind dann ein oder zwei Glockenbecher, eine steinerne Armschutzplatte und ein oder zwei Pfeilspitzen aus Silex. Hier hatten wir schon sehr weit oben zwei vollständig erhaltene voll verzierte Glockenbecher. Danach setzte sich die Verfüllung der Grabkammer noch etwa 60cm in die Tiefe fort, bevor wir auf weitere Funde stießen. Das spricht für einen hölzernen Grabbau, auf dem quasi die beiden oberen Glockenbecher standen, bevor der Grabhügel darüber kam. Die hölzerne Kammer konnte man auf der untersten Schicht auch sehr gut nachvollziehen.

Auf Höhe der eigentlichen Bestattung fanden wir noch weitere 9 voll verzierte Glockenbecher, 11 Pfeilspitzen, 4 steinerne Armschutzplatten (!) sowie eine Menge verzierte und teils durchlochte Schmuckstücke aus Knochen bzw. Eberzähnen, sowie weitere Silexgeräte bzw. Halbfabrikate. Diese Menge an Beigaben und diese Qualität derselben findet sich in keinem (!) bekannten Glockenbechergrab. Wir kennen eine Bestattung in Tschechien mit ebenfalls 4 Armschutzplatten und 12 Pfeilspitzen, aber "nur" mit 4 Glockenbechern. Das ist das nächst-ähnliche.

Der letzte Schirtt des Wahnsinn war dann, das, obwohl gut Platz für mindestens zwei gewesen wäre, schlichtweg keine Leiche drin lag. Knochenerhaltung haben wir auf jeden Fall, aber der Tote fehlt einfach. Es handelt sich also um ein Kenotaph, ein sogenanntes "Leergrab", das aus verschiedensten Gründen angelegt worden sein könnte.

Alles in Allem ist es ein tatsächlich einzigartiger Fund, ohne Vergleich innerhalb dieses Glockenbecherphänomens.
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Iarwain
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Re: Der Geschichts-Thread

Beitrag: # 58497Beitrag Iarwain
Mo 18. Okt 2021, 12:21

Hille hat geschrieben: So 17. Okt 2021, 21:42
Bene hat geschrieben: Fr 15. Okt 2021, 12:41 Hille, kannst Du noch was dazu schreiben, warum gerade diese Bestattung glockenbecherzeitlich so herausragend ist?
Das kommt in den Berichten (leider sind zwei davon Bezahlberichte) nicht so rüber. Steinmann deutet ja im TVA-Interview an, dass dieses Grab aus den bisherigen Erkenntnissen zur Glockenbecherkultur komplett heraussticht. Aber wieso?

Und natürlich Gratulation an Euer Team und Dich!
Entschuldige die späte Antwort, war über das Wochenende in Wien. :D

Also, da muss man generell natürlich schonmal bei der Glockenbecherkultur an sich anfangen. Als Kulturerscheinung ist sie an sich pan-europäisch, kommt also von Portugal über Süditalien bis Polen und Schottland im Norden vor. Außerdem kommt diese Kulturerscheinung vor allem in Form von Bestattungen auf uns, Siedlungen sind bisher eher nicht bekannt, bzw. sehr wenig. Die Gräber kommen als Einzelgräber mit einer sehr stark ritualisierten Bestattungsform vor: Nord-Süd orientiert mit Kopf im Norden und Blick nach Osten für Männer und Kopf im Süden Blick nach Osten für Frauen. Alles Hockerbetattungen. Im Vergleich zu Bestattungen anderer archäologischer Kulturen (z.B. UK oder LaTéne) haben wir es hier wie gesagt mit Einzelbestattungen zu tun, wir haben also bedeutend weniger davon als z.B. von Urnenfelderzeitlichen Gräbern.

Das ist das eine, dass ein Glockenbechergrab immer etwas besonderes ist. Jetzt hatten wir auf dieser Fundstelle zwei. Einmal ein "normales" Glockenbechergrab eines etwa 8jährigen Jungen mit einem Gefäß und ein bisschen Silexbeigaben. Da freut sich der Archäologe schon. Ein wenig weiter oben lag aber dann besagte Bestattung, die Grabkammer etwa 3x2 Meter groß inmitten eines Kreisgrabens, sprich das Grab war überhügelt. Das haben wir innerhalb der Glockenbecherkultur höchst selten. Wir sprechen von wenigen Prozent.
Standard innerhalb von Glockenbechergräbern sind dann ein oder zwei Glockenbecher, eine steinerne Armschutzplatte und ein oder zwei Pfeilspitzen aus Silex. Hier hatten wir schon sehr weit oben zwei vollständig erhaltene voll verzierte Glockenbecher. Danach setzte sich die Verfüllung der Grabkammer noch etwa 60cm in die Tiefe fort, bevor wir auf weitere Funde stießen. Das spricht für einen hölzernen Grabbau, auf dem quasi die beiden oberen Glockenbecher standen, bevor der Grabhügel darüber kam. Die hölzerne Kammer konnte man auf der untersten Schicht auch sehr gut nachvollziehen.

Auf Höhe der eigentlichen Bestattung fanden wir noch weitere 9 voll verzierte Glockenbecher, 11 Pfeilspitzen, 4 steinerne Armschutzplatten (!) sowie eine Menge verzierte und teils durchlochte Schmuckstücke aus Knochen bzw. Eberzähnen, sowie weitere Silexgeräte bzw. Halbfabrikate. Diese Menge an Beigaben und diese Qualität derselben findet sich in keinem (!) bekannten Glockenbechergrab. Wir kennen eine Bestattung in Tschechien mit ebenfalls 4 Armschutzplatten und 12 Pfeilspitzen, aber "nur" mit 4 Glockenbechern. Das ist das nächst-ähnliche.

Der letzte Schirtt des Wahnsinn war dann, das, obwohl gut Platz für mindestens zwei gewesen wäre, schlichtweg keine Leiche drin lag. Knochenerhaltung haben wir auf jeden Fall, aber der Tote fehlt einfach. Es handelt sich also um ein Kenotaph, ein sogenanntes "Leergrab", das aus verschiedensten Gründen angelegt worden sein könnte.

Alles in Allem ist es ein tatsächlich einzigartiger Fund, ohne Vergleich innerhalb dieses Glockenbecherphänomens.
Gibt es schon Thesen zu dem Kenotaph? Dass vielleicht der- oder diejenige, der/die darin bestattet werden sollte, zum Zeitpunkt des Todes weit weg war und man so die Leiche nicht mehr in das Grab brachte, aber dennoch eine "richtige" Beerdigung vollziehen wollte?
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